Veit Stiller

1995 – LIPPE DETMOLD: EINE WUNDERSCHÖNE STADT (DIE WELT)

Gesichter einer Stadt am Teutoburger Wald

Detmold, am Fuße des Teutoburger Waldes, war einst Hauptstadt des Fürstentums Lippe. Das war von 1920 an Freistaat, jetzt ist es Regierungsbezirk – mit der Hauptstadt Detmold. Die Bundesforschungsanstalt für Kartoffeln und Getreide ist in der Stadt, es gibt eine Fachhochschule, ein Landesmuseum und natürlich auch Kasernen – in der kaiserlichen Armee stellte der Fürst sogar ein eignes Kontingent. Drei deutsche Dichter wurden hier geboren: Ferdinand Freiligrath, Georg Weerth und natürlich Christian Dietrich Grabbe. Dessen einziges, zu seinen Lebzeiten erfolgreiches Stück, „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, ist eine Parodie auf die Verhältnisse in Duodez-Residenzen.

Detmold ist eine wunderschöne Stadt, so heißt es in einem alten Lied. Ein Rundgang bestätigt die Behauptung: die Altstadt ist Visitenkarte der Tradition und Schaufenster jahrhundertelanger Vergangenheit. Gewerbefleiß, Handwerkerstolz und der Beamten Ordnungssinn reichten sich die Hand und ließen das im Mittelalter gegründete Detmold gedeihen. Die Stadt lebt heute noch davon, blüht im Glanze dieses Glückes. Ein Aushängeschild für Deutschland. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: Kaum einer nimmt Notiz davon. Allenfalls weiß man, dass auf einer Erhebung vor den Toren der Stadt ein monumentaler Aussichtsturm steht, das „Herrmann-Denkmal“.

 

Der Teutberg hat seinen Namen vermutlich aus grauer Vorzeit: da war er eine Gerichtsstätte des Volkes, ein Thingplatz. Der Höhenrücken, zu dem er gehört hieß von Alters her Osning – vor ein paar hundert Jahren aber brachte der Teutberg ihm den Namen Teutoburger Wald ein. Von da an war man sich einig, hier fand die Varus-Schlacht statt: Endlich gab es im zerrissenen Lande einen Thingplatz, um den sich alle Träume von der Einheit der Deutschen rankten. Einer dieser Phantasten war der Bildhauer Ernst von Bandelt, das Herrmann-Denkmal ist sein Lebenswerk. Zur Zeit der Romantik hatte Bandelt die Vision, ein Denkmal für den legendären Cherusker-Fürsten Armin zu errichten, der die germanischen Stämme geeint und zum Sieg über römische Fremdherrschaft geführt hatte. Nachdem der Wiener Kongress die einheitliche Fronde gegen Napoleon in die Restauration feudaler Kleinstaaterei verkehrt hatte, war Bandelts nationale Vision sehr kühn. So ein Vorhaben lag in der Nähe von Aufruhr und fand folglich auch wenig Gegenliebe.

Bandel ließ sich jedoch nicht beirren, erinnerte an die Träume aus den Befreiungskriegen. Er konstruierte, sammelte Geld und begann zu bauen. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: erst nach Bismarcks Reichseinigung mit Blut und Eisen ging sein Vorhaben zügig voran. Allerdings war aus der romantisierenden Rotunde allmählich ein wuchtiger Koloss geworden, mit monumentalem Gründerzeitpomp. Die Zitaten antiker Formen hatten sich zu Nachbildungen römischer Machtinsignien gewandelt, als Symbol für das neue deutsche Kaisertum. Zur Einweihung reiste 1875 Wilhelm I. eigens aus Berlin an.

 

Von seiner Idee besessen, hatte Bandelt an der Baustelle eine ärmlichen Blockhütte errichten lassen, war mit seiner Frau dahin übersiedelt und verbrachte dort die letzten Jahre der Bauzeit. Noch heute steht die Hütte (deutsche Wertarbeit) wie ein Hexenhaus im Unterholz. An der Böschung davor erinnert eine Steintafel an die Einweihung: „Hier stand Ernst von Bandel bei der Übergabe des Denkmales…“ Das ist so recht deutsch: neben dem Denkmal noch ein Denkstein – Entkräftet und ausgezehrt starb Bandelt etwa ein Jahr nach Vollendung seines Lebenswerkes. Vierzig Jahre lang war er ignoriert worden, niemand wollte von seinem Tun gewusst haben, später gab es einen Denkstein.

Genau gegenüber der Bandelt-Hütte steht im Strauchwerk am Wegesrand eine zweite Tafel, mit Goldschrift: „Hier stand der Kaiser Wilhelm I. an Leopold’s des Fürsten zur Lippe Seite…“ Wie sich die Sätze gleichen ist fatal: Hier stand der Kaiser…, hier dankte der Führer…, hier kämpfte Walter Ulbricht…, hier eröffnete der Bundeskanzler… – Scherz? Nein. Satire, Ironie und tiefere Bedeutung?

Für das Fundament des Denkmales wurden Steinquader der Grotenburg verwendet, einer germanischen Wallanlage auf dem Gipfel des Teutberges. Besessen von der Vision, im zerrissenen Deutschland die Einheit der Germanen zu verherrlichen, zerstörte Ernst von Bandelt ein wichtiges historisches Zeugnis aus dieser Zeit. Aber das darf man ihm nicht vorwerfen – Schliemann begründete die ausgrabende Wissenschaft erst Jahrzehnte später. Etwa zur gleichen Zeit, als Bandelt begann, seine Vision zu realisieren, träumte im Exil auf Helgoland ein anderer von der Heimat und verzehrte sich nach seinem Deutschland, dass er über alles hielt. Seit dem haben Zukurzgekommene immer wieder deutschen Nationalstolz zu Überheblichkeit – und damit zuschanden gemacht. Die Nazis setzten dem eine blutige Krone auf. Dem haben die Liberalen hilflos stets zugesehen. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: Die Linken schämten sich für alles, oder waren borniert wie die Rechten.

Detmold ist eine wunderschöne Stadt. (Goldplakette für Stadtgestaltung und Denkmalschutz im Städtebau 1978) Das Schloss, ein Weser-Rennaissance-Bau, ist zur Hälfte Museum, der andere Teil ist noch Refugium der fürstlichen Familie. Eine rot-gelbe lippische Fahne zeigt an, ob die Potentaten a.D. ihre „Eigentumswohnung“ gerade nutzen; neben dem Schilderhaus lassen sich Brautpaare fotografieren, das verlangt der Brauch. Oder der Kult? Jeden Samstag startet hier ein Rundgang durch die Idylle. Zwei Stunden Fußweg lang wird der alte Stadtkern vorgeführt, wie ein deutsches Schlaraffenland. In den siebziger Jahren hätte die Bulldozer-Sanierung beinahe klare Verhältnisse geschaffen – eine handvoll entschlossener Bürger verhinderte das. Heute ist alles restauriert: Schönheit und Harmonie alleweil, liebevoll hergerichtet und ausgewogen. Es herrscht Ruhe und Diskretion, nichts Grobes oder Rohes stört, Detmold ist eine wunderschöne Stadt. Hier gibt es keine Widersprüche, die Vergangenheit ist verklärt und ästhetisch idealisiert, zum Maßstab der Gegenwart geworden und Rahmen für Alltag. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: das Märchenland ist frei von Veränderung.

Als der Kaiser 1875 zur Denkmalseinweihung in Detmold weilte, war er Gast des Fürsten, man war ja schließlich verwandt – das Fürstentum stellte sogar ein eigenes Kontigent für die Reichsarmee. Aber im Schloss gab’s noch kein Bad. Das einzige am Ort befand sich im Hotel „Stadt Frankfurt“ – also fuhr der Kaiser jeden Morgen mit der Kutsche dahin. Welch eine Szene: Der Kaiser barfuß und im Bademantel, mit Handtuch, Seife, Zahnbürste bewaffnet… Kurz vor der Wiedervereinigung erzählten einige Detmolder das mit sichtlichem Behagen; heute wird es (auf Nachfrage) in abwiegelndem Ton erzählt, mit Nachsicht in der Stimme für die Obrigkeit. Detmold ist eine wunderschöne Stadt.

Die Einwohner, einst vorwiegend arme Ackerbürger, die sich von Bauern abgrenzten, waren immer liberal. Der letzte Ministerpräsident des Freistaates vor der Nazizeit war Sozialdemokrat und wurde folgerichtig sofort verhaftet. Nach dem Kriege konnte er vom Freistaat nur das Emblem retten: die lippische Rose im Wappen von Nordrhein-Westfalen. Wenn man heute die Detmolder von den 30er Jahren reden hört, waren die Leute hier, wenn überhaupt, nur Nazis, weil sie dazu gezwungen wurden. Das Denkmal für die ermordeten Juden liegt versteckt in einer verwinkelten Gasse. Ein Hauch von Spitzwegs Gartenfreund umweht die Anlage – keine Namen, keine Symbole, stilreine Idylle. Eine Grünanlage, wie viele in Detmold: eine wunderschöne Stadt.

Das Hotel „Stadt Frankfurt“ gibt es heut nicht mehr. Äußerlich im klassizistischen Stil gelb und weiß restauriert, beherbergt es Büros und im Erdgeschoss, wo einst das Restaurant war, mehrere Läden. Nichts erinnert an gewesene Gastlichkeit, wäre da nicht eine Bronzetafel: „Hier wohnte Brahms. / Lortzing, Grabbe und Freiligrath hat hier getrunken, bis die Sonn ins Fenster gewunken, dann sind sie leis nach Hause gehunken.“ Lortzing und Brahms waren in Detmold für einige Zeit als Hofkapellmeister bestellt. Grabbe und Freiligrath sind „Söhne der Stadt“, der dritte Sohn fehlt in der Auflistung, war zur Zeit der Gelage noch zu jung: Georg Weerth. Es ist bekannt, dass gewaltige Sauforgien stattfanden und der Heimweg der Herren alles andere als leise von statten ging, „Welch männlich Verlangen, als Jäger zu leben…“ Aber Detmold ist eine wunderschöne Stadt, so sind sie „leis gehunken“: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.

Während Ernst von Bandelt mit der Arbeit an seinem Denkmal für Arminius begann, setzte im „Stadt Frankfurt“ auch der Grabbe dem alten Germanen eins. Von seiner Frau des Hauses verwiesen, begann er in der Gastwirtschaft, die „Herrmannschlacht“ zu schreiben, sein letztes Stück. Auch Grabbe träumte von der deutschen Einheit und verehrte Arminius. Der Dichter, von dem Heine später sagte, er sei „ein deutscher, ein betrunkener Shakespeare“, war beseelt vom Geist der Französischen Revolution, hielt Napoleon für deren Vollender und schrieb Stücke für realistisches Theater. Er wollte die Helden als Menschen zeigen und Menschen als Helden. Als Grabbe seine Stücke schrieb, war die Fotografie noch nicht erfunden, geschweige der Film, aber die Dramen lesen sich wie Szenarien für Hollywood-Monumentalfilme – gespielt werden sie auch heute nur selten. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.

Grabbe wollte in seinen Stücken etwas Neues zeigen, als ringsum alle das Come-Back des Alten betrieben: er wollte das Volk auf die Bühne bringen. Das war weniger revolutionär als folgerichtig: sein Vater war Direktor des Zuchthauses gewesen. Wenn die Mutter den sensiblen Jungen nicht mit Kandis und Schnaps ruhig gestellt hatte, spielte der im Hof der Verwahranstalt und sah dort die Kehrseite des wunderschönen Detmold: Mörder, Diebe, Engelsmacherinnen, Deserteure. Das giebelständige Haus in der Altstadt steht noch, ist Touristenattraktion und beherbergt heute das Cafe´ Grabbe, außerdem eine Studiobühne. Der junge Grabbe studierte Geschichte beim Archivrat Clostermeier – der entdeckte die Begabung des Halbwüchsigen und fördert ihn. Der verliebte sich nebenbei in dessen Tochter Luise, die zehn Jahre älter war – und später seine Frau wurde. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.

Grabbe blieb zunächst im „Elternhaus“, übernahm als Auditeur (Militärjurist) selbst die Zucht-Aufsicht, schrieb nebenher. Dann verließ er fluchtartig die wunderschöne Stadt und die harmonische Welt ihrer Bewohner, konnte sich aber nicht lösen, schleppte Detmold mit sich herum, wie Morast an den Schuhen: eine Hassliebe. Wie ein wildes Tier kam er zurück, um zu sterben. Luise verstieß den exaltierten Kerl, der nicht mehr fähig war, sich an kleinstädtischen Gewohnheiten anzupassen. Das drohte im wunderschönen Detmold zum Skandal zu werden, sie gab klein bei, ließ ihn für die Überschreibung der Rechte ins Haus, damit er nicht auf der Straße verende. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Längst hatte sie eine Liaison mit dem Nachbarsohn. Das war der Spross Kaufmannsfamilie Freiligrath. Er hieß Ferdinand, leistete gerade seinen Freiwilligendienst und verehrte den Grabbe, der im „Stadt Frankfurt“ residierte – es war die Zeit der Gelage.

Im Pfarrhaus gegenüber, nur einen Steinwurf weit auf der anderen Seite der Gasse, hatte Superintendent Weerth einen Sohn namens Georg, und auch der sah in Grabbe einen Gott, sog Manna aus seinen Worten. Grabbe wollte das Volk in die Literatur einführen, aber er brachte nur die Detmolder Bürger auf die Bühne, meist im Zerrspiegel seiner Kritik. Er starb, gerade 36jährig. Freiligrath und Weerth erwiesen sich jedoch als wahre Jünger, allerdings ohne die Größe des Meisters. Freiligrath übernahm von Grabbe das Pathos: „Frisch auf, der Freiheit Kämpfer Scharen…“, seine Marseillaise-Übersetzung ist heute noch bekannt. Weerth führte tatsächlich das Volk in die Literatur ein, gilt als Begünder der Proletarischen Literatur: „Der alte Wirt von Lancestershire, der zapft ein jämmerliches Bier…“

Detmold ist eine wunderschöne Stadt. Der Grabbe ist daran verrückt geworden, starb an Auszehrung und am Alkohol; der gleichaltrige Ernst von Bandelt hatte sich gesundheitlich und finanziell ruiniert. Die Jünger gingen zu Karl Max und wurden Kommunisten. Dem Freiligrath hat man diese „Jugendsünde“ längst verziehen, er war im Alter Deutschnationaler. Weerth schrieb für Marx´ „Neue Rheinische Zeitung“ scharfe Artikel und kämpfte auch aktiv – nach der gescheiterten Revolution und dem Niedergang der Zeitung, gab auch er das alles auf und wurde Kaufmann, wie gelernt. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: Er ging nach Kuba, lebte dort als Kolonialherr und starb bald am Tropenfieber.

Detmold ist eine wunderschöne Stadt, Kommunist wird man da heute nicht mehr. Rund um die Stadt richteten die neuen Nazis ihre Lager ein, führten wehrsportliche Übungen durch. Im Villenvorort Privitsheide-Kussel hatte die Nationalistische Front in der Quellenstraße ihr bundesweites Schulungszentrum. Diese verfassungsfeindliche Organisation ist inzwischen verboten, auf dem Grundstück weht immer noch die schwarz-weiß-rote Fahne und die Anschlagtafel gleich hinter dem Zaun verbreitet Naziparolen. Eine Antifaschistische Front gegen die Nazis, wie in anderen Städten, wie im nahen Bielefeld, gibt es in Detmold nicht – wohl aber eine Bürgerinitiative der Anwohner gegen das Schulungszentrum. Die scheint aber mehr von den gesunkenen Grundstückspreisen inspiriert als von der Abwehr der Nazis. Detmold ist eine wunderschöne Stadt, ein Aushängeschild Deutschlands. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung: außerhalb ihrer Grenzen weiß das kaum einer.

Berlin, Juni 1995

Für: DIE WELT, Berlin 1995